Der Zeitgeist lässt grüßen
Von der Unmöglichkeit der authentischen Gestaltung des Wohnraums
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mein eigenes Kinderzimmer bekam. Und ich rede nicht von dem Raum, den ich beziehen sollte, sondern von dem kompletten Einrichtungsgebilde aus dem Möbelhaus. Schreibtisch, Kleiderschrank und Bett waren aus einem Guss. Selbst die Bettbezüge und Fenstervorhänge passten optisch einwandfrei zum hellen Holz der Möbel. Unglaublich, aber wahr: Mein Zimmer war sogar mit Teppichboden ausgelegt! Heutzutage eine absolute Rarität.
Ähnlich verfuhren viele Deutsche, wenn es um die Einrichtung ihrer Wohnzimmer ging. Man kaufte nicht bloß einen Wohnzimmerschrank, sondern gleich eine ganze Schrankwand, in die man den Fernseher integrierte. Passend dazu eine Sitzgruppe, die man auf den Fernseher ausrichtete, sowie einen gläsernen Wohnzimmertisch als Ablage für die Fernbedienung(en).
Bis in die 2000er Jahre dominierten Funktionalität & Massentauglichkeit in der Einrichtung
Und das ist noch gar nicht so lange her. Erst seit 2004 baut die Hamburger Werbeagentur Jung von Matt “Deutschlands häufigstes Wohnzimmer” in ihren Büroräumen nach. Falls du noch einmal in alten Einrichtungszeiten schwelgen möchtest, im folgenden Artikel findest du Fotos der Standard-Wohnzimmer. Bis 2016 wurde es immerhin dreimal verändert, die Grundkonstellation ist jedoch stets gleich geblieben.
Auch ich erkenne das ein oder andere Einrichtungselement wieder, zum Beispiel den kleinen Teppich unter dem Couchtisch. So einen wollte ich auch unbedingt haben! Und nun liegt er da, der alte Staubfänger. Warum gönnen wir dem Wohnzimmertisch einen flauschigen Teppich, den meine Füße viel besser vertragen könnten? Letztere muss ich abends beim Fernsehen stets anwinkeln und unter meinen Po schieben, weil mir der Fliesenboden, auf dem unser Sofa steht, zu ungemütlich ist. Der Couch-Teppich hört nämlich kurz vorm Sofa auf. Nicht nur unpraktisch, sondern total bescheuert, aber ich habe es bislang nicht in Frage gestellt. Der Zeitgeist verlangte eben genau diesen Look.
Andererseits schreitet der Trend zur Individualisierung so weit voran, dass man das eigene Zuhause eben doch nicht mehr im Standardwohnzimmer der Werbeagentur wiedererkennen kann. Couchgarnitur und Laminatfußböden sucht man bei uns (und vielen anderen) vergeblich. Vorgefertigte Kompletteinrichtungen aus dem Möbelhaus sind aus der Mode gekommen. Dafür kombiniert man nun Einzelstücke, um zu zeigen, dass man nicht durchschnittlich ist, sondern etwas Besonderes.
Das Wohnen wird zum Ort der Selbstdarstellung
Die Wohnung ist schließlich nicht mehr nur das gemütliche Refugium, in das man sich nach getaner Arbeit zurückzieht. Das Wohnen selbst ist zum neuen Interessenfeld der Mittelklasse geworden. Wie man sich einrichtet, soll die persönliche Identität widerspiegeln – und das möglichst authentisch. Cogito, ergo sum? -Nein, ich wohne, also bin ich! Und weil das nach Singularität strebende Individuum nicht nur für sich selbst lebt, sondern immer auch für ein Publikum (das man u.a. über die sozialen Medien erreicht), wird das eigene Wohnen natürlich auch nach außen präsentiert:
Was die allgemeinen Raumqualitäten angeht, erwartet das spätmoderne Subjekt von seiner Wohnung, dass sie die Qualität einer Bühne entfaltet – einer Bühne für die Dinge, die in ihr platziert werden, und für die Menschen, die sie bewohnen.
Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten
Nur der Fernseher bleibt – als Multifunktionsgerät
Etwas, das sich nach wie vor im Wohnzimmer befindet – egal, wie individuell eingerichtet – ist der Fernseher. -Wenngleich dieser nicht mehr unbedingt zum Fernsehen genutzt wird, sondern überdies zum Spielen oder Streamen. Trotzdem ist die Couch i.d.R. auf das Fernsehgerät ausgerichtet. Das hat sich über die Jahrzehnte tatsächlich nicht verändert. Es sei denn, man zählt sich zum Bildungsbürgertum oder zu den Digitalen Kosmopoliten, die stets stolz hervorheben, keinen Fernseher zu besitzen.
Auf Plattformen wie “Freunde von Freunden” oder “So leb ich” kann man die Inneneinrichtungen der Kreativen bewundern, die sich trotz Strebens nach Singularität erstaunlich ähnlich sehen, wie die F.A.S. feststellt:
Dafür bei beiden: Schallplatten. Wie in ungefähr allen Wohnungen dieser Website, die mit jeder neuen, wunderschönen Wohnung, egal ob in São Paulo, Kopenhagen oder Hamburg, nur den übergroßen, aber offenbar unerfüllbaren Wunsch nach Individualität dokumentiert – weil am Ende jeder einen geklauten Aschenbecher aus dem Frankreich-Urlaub unter ein Filmposter mit Rita Tushingham stellt. Jeder.
Glotzt du noch oder klickst du schon?
Heute werden Einzelstücke kombiniert, um die persönliche Einzigartigkeit zu zeigen
Tatsächlich habe ich beim Scrollen durch die vielen von Usern hochgeladenen Fotos das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben – in den Magazinen von Schöner Wohnen und Living at Home zum Beispiel. Kaum ein Zimmer, das nicht vom Standard abweicht: Helle Möbel, helle Wände, Dielenböden und natürlich: Blumenarrangements en masse. Unverputzte Ziegel und Sichtbeton versprechen darüber hinaus Authentizität. Der Zeitgeist lässt wieder einmal grüßen.
Wer gestalterisch wirklich gegen den Strom schwimmen wollte, müsste lediglich Teppichböden verlegen. Aber so weit will scheinbar niemand gehen. Offenbar erinnert so ein Teppich noch zu stark an den Konformismus der alten Mittelklasse, den man glaubt, überwunden zu haben.
Gleichwohl erkennt man schnell, dass die Gestaltung der eigenen vier Wände nicht als bloße Notwendigkeit betrachtet wird, sondern als dauerhafte Herzensangelegenheit. Möbel und Deko-Elemente werden einzeln erworben und so arrangiert, dass die Wohnung die Persönlichkeit ihrer Bewohner reflektiert. Dass sich die Wohnungen und Häuser dennoch gleichen, kann nur eines bedeuten: Wir sind einander ähnlicher als wir wahrhaben wollen. Außerdem müssen wir uns wohl eingestehen, dass nur wenige über so viel Kreativität verfügen, sich tatsächlich etwas Originelles einfallen zu lassen. Der Rest von uns kauft in denselben Möbelhäusern, besucht dieselben Onlineshops und verfolgt dieselben DIY-Tutorials, um dieselben Sachen selber zu machen, Palettenmöbel zum Beispiel. Was bleibt, ist immer nur der Wunsch, sich von der Masse abzuheben.
Es verwundert daher nicht, dass die Werbeagentur Jung von Matt ihr “häufigstes Wohnzimmer” seit 2021 durch das “Bubbleversum” ersetzt hat, einem Erlebnisraum, der die digitalen Lebenswelten der Deutschen zusammenfasst. Denn heute bietet allein Deutschland 83 Millionen unterschiedliche Lebensrealitäten – so jedenfalls sehen es die Werber.
Wir haben die Durchschnittlichkeit in der Inneneinrichtung hinter uns gelassen, heißt es weiterhin. Doch medialen Widerhall finden immer nur dieselben Bilder, die offenbar nur einen Stil widerspiegeln: den der erfolgreichen Mittelklasse. Ein Stil, der viele Nachahmer gefunden hat. Fragt sich nur, wie viel Individualismus dann noch in den Wohnungen der Leute steckt.
LG Anne!!!