Kein Spielzeug!
Kinder sind nicht auf der Welt, um Erwachsene glücklich zu machen, sagt die Sexualtherapeutin Lucyna Wronska.
Fakten zum sexuellen Missbrauch von Kindern
Vor zwei Jahren erschütterten zwei Kindesentführungen Berlin und Brandenburg. Sowohl das vierjährige Flüchtlingskind Mohamed als auch der sechsjährige Elias wurden vom selben Täter missbraucht und getötet. Wochenlang war die tragische „Story“ in den Medien und hat Eltern mehr denn je verunsichert. In solchen Momenten wächst die Überzeugung, das eigene Kind sei von einer solchen Entführung bedroht und müsse dagegen geschützt werden.
So schreibt der Spiegel: Medienberichte darüber treffen ins Herz jedes Elternteils, weil die eigene Lebenswelt betroffen ist. Oft entsteht dann das Gefühl, heute gebe es mehr solcher Fälle als noch vor wenigen Jahren. Falsch, sagt Rudolf Egg. Die Zahl hat sich nicht erhöht.
Die Angst vorm „Fremden Mann“ lenkt von der tatsächlichen Gefahr ab
Trotzdem kocht die Gerüchteküche in Momenten der Unsicherheit: Kürzlich erzählte mir eine Bekannte, dass „vor zwei Jahren oder so“ in unserem Ort ein Kind ins Auto gezerrt und entführt worden sei, und zwar gleich vor der Grundschule. Details zum Fall? –Keine. Später bei einer Elternversammlung in der Kita platzte einem Vater der Kragen. Er beschwerte sich darüber, dass Schule und Kindergarten öffentlich zugängliche Institutionen seien. Da könne ja jeder kommen und sich ein Kind schnappen!
Die Antwort der Erzieherin, dass sie so etwas in ihren 30 Jahren an dieser Kita noch nicht erlebt hätte, konnte den Mann nicht beschwichtigen. Dabei hat die Pädagogin mit ihrer Einschätzung recht: Bislang ist deutschlandweit kein einziger Fall bekannt, in dem ein Kind aus seiner Kita bzw. Schule entführt worden ist.
Tatsächlich gibt es pro Jahr etwa drei Kindesentführungen mit anschließendem sexuellem Missbrauch, sagt die Psychologin Lucyna Wronska, die ich für diesen Artikel interviewen durfte.
In den meisten Fällen ist den Kindern der Täter bekannt
Sie arbeitet in der Berliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“, die sozialtherapeutische Hilfen für sexuell missbrauchte Kinder, Jugendliche und deren Familienangehörige anbietet. Dabei trifft Frau Wronska nicht nur auf die Opfer sexueller Gewalt, sondern auch auf deren TäterInnen. Dem „Schwarzen Mann“, der Kinder gewaltsam entführt, ist die Psychologin allerdings noch nicht begegnet.
Sexueller Missbrauch von Kindern findet trotzdem statt, und zwar viel häufiger als man sich vorstellen kann. So wurden von der Polizei 2011 ca. 12.500 Missbrauchsfälle von Kindern erfasst. Sie geht allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus.
Verübt werden die „sexuellen Grenzverletzungen“ in der Familie oder im Nahraum des Kindes. Die immer wieder zu Tage geförderten Missbrauchsfälle in der Kirche, in Schulen und Internaten belegen dies. In folgender Infografik findest du die genauen Zahlen>>
Da Kinder Generationen-übergreifend stets auf den „bösen Fremden“ fixiert wurden, rechnen sie nicht damit, dass Familie und Vertraute zur Gefahr werden können. Entsprechend wenig setzen sie sich gegen die sexuellen Übergriffe zur Wehr, auch weil eine emotionale Abhängigkeit zwischen TäterIn und Opfer besteht.
„Sexueller Missbrauch entwickelt sich schleichend“, sagt Frau Wronska. „Auch über Manipulation.“
Wie du dein Kind stärkst
Kinder aufklären, denn Wissen schützt
Kinder aufzuklären, liegt der Psychologin daher besonders am Herzen. Wie Eltern und ErzieherInnen das anstellen können, dazu hat Frau Wronska folgende Ratschläge:
Die sexuelle Aufklärung des Kindes sollte auf möglichst unaufgeregte Art und Weise erfolgen. Geschlechtsorgane sollten klar benannt werden. Sätze wie „Wasch dich da unten!“ sind alles andere als hilfreich fürs Kind.
Wenn es dabei geht, die Körperteile zu benennen, setzen die meisten Eltern nur auf Arme, Beine, Kopf und Schultern (usw.), Penis und Vulva werden hingegen ausgelassen. Kinder sollten allerdings lernen, dass ihre Genitalien genauso wertvoll sind wie z. B. ihre Augen. Hier geht es darum, dass weder Penis noch Vulva entwertet werden.
Es gibt in der Tat eine kindliche Sexualität, in der es vornehmlich darum geht, sich selbst zu entdecken. Wenn sich das Kind also selbst berührt, massiert o.ä., dann sollte man das geschehen lassen oder das Kind ggf. darauf ansprechen.
Es gibt gute und schlechte Geheimnisse
Wer petzt, ist ein Spielverderber? –Geheimnisse zu verraten, ist nicht nur unter Kindern verpönt. Mach deinem Kind klar, dass es sich sehr wohl aussprechen – und somit Dinge weitersagen – darf, wenn diese ihm Kopfzerbrechen bereiten! Denn „Schlechte Geheimnisse werden Dir aufgezwungen und sind eigentlich gar keine Geheimnisse“ (siehe www.polizei-beratung.de/)
Dein Körper gehört dir
Das klingt dir zu theoretisch? Zum Glück hat Frau Wronska ein Praxisbeispiel, wie du einem ca. 5-jährigen Kind erklären kannst, dass sein Körper nur ihm gehört:
„Wer darf mit deiner Nase spielen?“ (Antwort: Nur du!)
„Wer darf seinen Finger in deine Nase stecken?“ (Nur du!)
„Wer darf mit deinem Po-Loch spielen?“ (usw.)
Frau Wronska empfiehlt weiterhin das Buch „Kein Küsschen auf Kommando“, in dem Kindern (und Eltern) klargemacht wird, dass Kinder „Liebeleien“ nicht über sich ergehen lassen müssen.
Warum es so wichtig ist, dass Kinder lernen, „Nein“ zu sagen
Die Missbrauchsfälle von Kindern sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stark zurückgegangen. Zu verdanken ist dies einer verbesserten Aufklärung. Diese und die Stärkung des Selbstvertrauens von Kindern sind daher sehr wichtig, um Kinder vor Übergriffen zu schützen.
Ein Kind muss verinnerlichen, dass es nicht dazu da ist, Erwachsene glücklich zu machen. Es ist kein Spielzeug.
Die meisten von uns „Großen“ wissen, wie schwer es ist, sich abzugrenzen und anderen mit einem „Nein“ (vermeintlich) vor den Kopf zu stoßen. Wie schwer muss es da erst einem Kind fallen, in entsprechenden Situationen „Nein“ oder „Stopp“ zu sagen. Dazu solltest du es jedoch unbedingt befähigen!
Erwiesen ist nämlich leider auch, dass TäterInnen ein ausgeprägtes Gespür für unsichere Kinder haben. -Kinder, die sich selbst nicht als wertvoll erleben und deshalb besonders offen sind für liebe Worte, Komplimente und Lockungen.
Hintergrund
Zu diesem Artikel angeregt wurde ich von einem Newsletter, der mir ohne meine Zustimmung von der „Sicher-Stark-Initiative“ zugeschickt worden ist. Im Newsletter wird auf die „erschreckende Anzahl“ von Missbrauchsfällen hingewiesen, ohne jedoch konkrete Zahlen zu nennen.
Um den Kindesmissbrauch zu verhindert, sollen Eltern deshalb bei derselben Initiative ein „Sorglospaket“ für 50 Euro bestellen oder wahlweise gleich einen ganzen Kurs buchen – kostenpflichtig, versteht sich. Dieser wird von sogenannten „Präventionstrainern“ durchgeführt. Sie veranschaulichen den Kindern, wie sie sich dagegen wehren, in ein Auto gezerrt zu werden…
So wird mit den Ängsten der Eltern Kasse gemacht.
Zum Vergleich: Gemeinnützige Beratungsstellen bieten Beratungsgespräche an Kitas und Schulen kostenfrei an. Durchgeführt werden diese von PsychologInnen und SozialarbeiterInnen.
Auch die Polizei berät auf Anfrage kostenfrei an Kitas und Schulen. Schulungsmaterial für Fachkräfte hält sie ebenfalls bereit. Beratungsstellen kannst du online suchen>>
Weiterführende Links & Informationen
- Hilfeportal Missbrauch
- Initiative Schule gegen sexuelle Gewalt
- Polizei Beratung
- Infoseite „Missbrauch verhindern„
- Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern: Nummer gegen Kummer e.V.
- Oft fragen sich Eltern, was Täter überhaupt dazu bewegt, ein Kind sexuell zu missbrauchen. Eine Antwort hat die Psychologin Lucyna Wronska in folgendem Beitrag verfasst: Kindesmissbrauch, Wie kann man so etwas nur tun?